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Bildung im Metaverse – Revolution oder Platzpatrone?

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Wie ein Pendel von der Erfolgsmeldung zur Hiobsbotschaft

 
von Marcus Kuhn

Mit dem Metaverse wird eine neue Phase des Internets beginnen, die so ziemlich alles ändern könnte. Nach gängiger Einschätzungen von Zukunftsforscherinnen und -forschern wird das Metaverse mit seinen Möglichkeiten der virtuellen Realität (VR) auf absehbare Zeit einen riesigen Impact auf Gesellschaft, Bildung und Handel haben. Der Digitalriese Meta kündigt allein in Europa 10.000 Arbeitsplätze an und eine Studie der Analysis Group von 2022 rechnet damit, dass das Metaverse im nächsten Jahrzehnt 417 Milliarden Euro zur europäischen Wirtschaft beitragen könnte1.Gleichzeitig ist der aktuelle Hype zumindest im Privaten noch den Vorstellungen hinterher. In der ZEIT heißt es dazu „Game Over, Big Tech. Das Metaversum hat kaum Besucher“ und bezieht sich dabei auf interne Dokumente, die dem Wall Street Journal vorliegen².  

Auf die Plätze, fertig, ...

In seiner vollen Blüte lässt das Metaversum also noch auf sich warten. Wann es so weit sein wird – hier reichen die Vorstellungen von gestern bis in 20 Jahren.

„Sei es in ‚zwei bis drei Jahren‘ (Microsoft-Gründer), in ‚fünf bis zehn Jahren‘ (Facebook-Chef), in den nächsten Jahrzehnten (Chef des Spieleentwicklers Epic) oder ‚in der Zukunft‘ (Google-Chef).“ heißt es hierzu in der ZEIT ONLINE3 . Es liegt nahe, dass der Übergang sehr fließend und leicht werden wird. Den Prozess das Smartphone als altersübergreifender Breitensport zu etablieren, haben kluge Köpfe gut umgesetzt. So wunderte es mich nicht, dass die acht Rentnerinnen und Rentner, denen ich erstmals in ihrem Leben eine VR-Brille aufsetzte, einstimmig begeistert und fasziniert waren und wie kleine Kinder lachten und kicherten, während sie sich durch das Metaverse bewegten.

Gleichzeitig erleben wir seit Corona in größtem Tempo, wie sich ganze Branchen umkrempeln und digitalisieren. Erst jüngst habe ich in Sardinien einen Psychotherapeuten getroffen, der seine Klientinnen und Klienten per Videokonferenz behandelt. Die Teilnehmenden befinden sich an schwer zugänglichen Orten, wie etwa Inseln, Dörfern oder Gefängnissen. Vor fünf Jahren wäre dies noch völlig undenkbar gewesen. Wir beobachten hier eine schrittweise Akzeptanz in der Bevölkerung und Arbeitswelt eines zunehmenden Verzichts auf die einst als unverzichtbar wahrgenommene physische Anwesenheit unserer sozialen Kontakte.

Die aktuelle Digitalisierungswelle wird rückblickend vermutliche als eine Art Schneepflug für das Metaverse interpretiert werden. Erste Pioniere in der Bildung haben sich bereits auf den Weg gemacht. Große Automobilkonzerne geben virtuelle Lehrgänge zur Wartung von Maschinen für Menschen an Standorten auf anderen Kontinenten und Berufsschulen berichten von ihren Ausflügen ins Metaverse, wo die Schülerinnen und Schüler sich an Maschinen versuchen und die Prozesse von allen Seiten beobachten können4.

Das immersive Lernen, also das Eintauchen in eine realistische Lernumgebung mittels VR, kombiniert echte Gefühle und nahezu authentische Erfahrungen mit virtuellen Umgebungen. So die Hoffnung – zumindest wird in diesen Kontexten gerne auf neurowissenschaftlicher Forschung verwiesen, die zeigen, dass die Leistung in einer virtuellen Arbeitsumgebung einen guten Indikator für die Ergebnisse in einer realen Arbeitsumgebung darstellt5.

Das Beobachten dieser Entwicklungen und der dadurch entstehenden Möglichkeiten scheint sich aus Bildungsperspektive in jedem Fall zu lohnen.

Silberstreif für den Bildungssektor?

Die Erwartungen an Lernen mittels Virtueller Realität (das im Metaverse, also dem Internet der Zukunft in ihrer vollen Reife stattfinden soll) überschlagen sich. Durch den jetzigen Digitalisierungsschwung erhofft man sich ein verbessertes kooperatives und personalisiertes Lernen in der Schule6 – im Metaverse könnte es final Realität werden.

Mittels Virtueller Realität (VR) können unzählige Szenarien und Situationen simuliert werden, das Lernen kann personalisiert in adaptiver Geschwindigkeit und aus neuen visuellen Perspektiven heraus stattfinden. Sehr verlockend, wo es doch heißt, dass beim einfachen Zuhören oder Lesen der Lernerfolg nur bei vier Prozent liegt, beim aktiven Erleben, Handeln und Ausprobieren hingegen bei 75 Prozent. Hier liegt ein Hauptargument im Diskurs von Metaverse versus Schulbuch. Dass die Prozentpunkte stark variieren, ist selbstverständlich – die generelle Richtung hingegen ist nachvollziehbar (Ob der Vergleich zwischen Buch und Metaverse zulässig und zielführend ist, steht auf einem anderen Blatt).

Weiter kommt hier mit der Vervielfältigung ohne Qualitätsverlust eine zentrale Stärke der digitalen Medien zum Tragen. Die neuen Möglichkeiten sind nicht von der Hand zu weisen. Ein Ausflug in eine geschichtsträchtige Gegend oder Zeit, die Skalierbarkeit von Farben und Tönen, die Wiederholbarkeit von Prozessen. Aufwendige und gefährliche Experimente können simuliert werden, angstbesetzte Szenarien wie das öffentliche Reden geprobt – und selbst vermeintlich analoge Bereiche wie das Lernen von Tanzschritten sind bereits erschreckend gut im Metaverse abgebildet.

Zentral steht in der Argumentation allerdings immer wieder das Lernen am Modell. In der Realität kann ich ein Modell nicht skalieren oder vervielfältigen. Alle Schülerinnen und Schüler benötigen entweder ein eigenes – oder es geschieht zeitaufwendig nacheinander. Der Vorteil ist haptischer, olfaktorischer und gustatorischer Natur, also dass ich es in der Realität auch anfassen, beschnuppern und schmecken kann. Wird das Metaverse auch solche Anforderungen zu meistern wissen? Den  einfachsten Vorgeschmack geben im doppelten Sinn die Airup Trinkflaschen, eine Art Getränketechnologie, bei dem Wasser nur über Geruch aromatisiert wird, indem ein Aroma-Aufsatz den Geschmack und somit den Konsum einer Limo oder ähnlichem vorgaukelt.

Der vielleicht wichtigste Vorteil ist allerdings die Dezentralität. Diese Möglichkeit wurde bereits durch den Online-Unterricht Realität und wird durch VR auf ein neues Level gehoben. Es müssen sich nicht mehr alle Schülerinnen und Schüler am selben physischen Ort befinden, um ein Modell für den eigenen Lernprozess zu nutzen.

Diese spannenden Perspektiven sind derzeit noch Zukunftsmusik. Die konkreten Möglichkeiten mit didaktischem Mehrwert sind derzeit noch kaum verfügbar. Anbieter wie INSPIRIT7 bieten bereits qualitativ hochwertige Modelle an, die dann jedoch auf dem flachen Bildschirm zu bestaunen sind und irgendwann ins Metaverse überführt werden sollen. So lässt sich zumindest erahnen, wohin die Reise gehen wird.

Die Geschwindigkeit, in der sich technische Entwicklung vollzieht, und die möglichen Potentiale, welche daraus für unsere Gesellschaft resultieren, verdeutlichen auch die Bedeutsamkeit, welche im Bildungsbereich der gezielten Vorbereitung von Schülerinnen und Schülern auf den Umgang mit digitalen Medien zukommt. Welchen Quellen kann ich vertrauen, und auf welcher Grundlage treffe ich diese Entscheidung? An welchen Stellen in meinem Alltag stellt Mediennutzung für mich einen Mehrwert dar, und an welchen tut mir ein bewusster Rückzug gut? 

Selbständig und -bewusst Verantwortung für den eigenen Umgang mit digitalen Medien zu nehmen: Wie Lehrkräfte diese Kompetenz bei ihren Schülerinnen und Schülern, aber auch sich selbst aktiv fördern und ausbauen können, vermittelt das ISH in speziellen Fortbildungen zu den Themen Digitalität, digitale Resilienz und KI in Unterricht und Schule. Mehr Informationen dazu hier: ISH Schule – Lehrkräftefortbildungen und Schülerworkshops

Sie haben Fragen oder wünschen eine Beratung? Dann nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf: ISH Kontakt

Ausblick

In einem Interview blickt Kathy Hirsh-Pasek, Professorin der Psychologie an der amerikanischen Temple University, optimistisch auf die Entwicklung8. Das Metaverse werde, ähnlich dem Online-Unterricht, kein Ersatz für unser derzeitige Form von Schule werden. Ebenfalls werde sich unsere soziale Interaktion nur stellenweise ins Metaverse verlagern und diese nicht ablösen, sondern für zusätzliche  Formen der Vernetzung sorgen.

Es birgt eine gewisse Komik, wenn man sich Gartners „Hype Cycle for Emerging Technologies“ für technische Innovationen vor Augen ruft und gleichzeitig die ersten Ankündigungen für Metaverse Schulen in Ende 2022 betrachtet.

 

In Anlehnung an Gartners Hype Cycle gibt uns dieses Modell eine Idee, wie es mit dem Metaverse weitergehen könnte9

 

Ankündigung erster Metaverse-Schulen für Ende 2022 –
Die Optima Classical Academy in Florida10

Es bleiben weitere große Fragezeichen, wie etwa die zusätzliche Bildschirmzeit und der Datenschutz. Während sich der digitale Medienkonsum hoffentlich einpendelt, verweist Hirsh-Pasek auf die Problematik, dass Technologie Regulatoren (also Politik, Ämter etc.) braucht aber die Regulatoren derzeit die Technologie noch nicht vollends verstehen. Zu groß ist derzeit noch das Investitionsvolumen der großen Tech-Firmen, als dass diese Spitzentechnologie in ihrer Gänze offenliegen würde. Jedenfalls werben Firmen wie Edverse11 bereits damit, dass NFTs (Non-Fungible Tokens) der effizienteste Weg, um den Lernfortschritt von SchülerInnen sicher zu speichern und quasi als digitales Zeugnis mit auf den Weg ins Arbeitsleben zu geben. Ob solche Prozesse in den Händen der Privatwirtschaft gut aufgehoben sind?

 

Und was macht Deutschland?

Normalerweise erst einmal hauptsächlich zuschauen. Ein überraschender und bemerkenswerter Schritt ist daher die Ankündigung der Ausbildung „Gestalter für immersive Medien/Gestalterin für immersive Medien“ , beworben beim Bundesinstitut für Berufsbildung12. Auf Basis der „Voruntersuchung zum Bedarf beruflicher Qualifizierung für die Gestaltung immersiver Medien“13 von Krämer & Azeez 2021 kommt man im Kontext von steigenden Einsatzmöglichkeiten immersiver Medien, wie etwa Augmented Reality, Virtual Reality, Mixed Reality in der Ausbildungsbeschreibung zu folgendem Fazit: „Der aktuelle Fortschritt lässt somit erwarten, dass die Technologien im Bereich der immersiven Medien und ihre vielfältigen Anwendungen im beruflichen wie privaten Alltag zukünftig eine weiter wachsende Rolle spielen werden.“

Wie geht es weiter?

Wer noch nie eine VR-Brille der neueren Generation aufgesetzt hat, dem sei dieser spannende Blick in die Zukunft sehr ans Herz gelegt. Marktführend sind derzeit beispielsweise die Oculus Quest 2 Brillen von Meta für ca. 500€. Auch wenn das Metaverse in seiner ganzen Reife noch eine kurze oder lange Weile entfernt sein mag, so lohnt es sich doch, dieses Fenster ins Morgen zumindest einmal kurz zu öffnen. Die Anwendungen haben bereits eine überwältigende Grafik und wer nur einmal zehn Minuten in einem VR-Beginner-Tutorial verbringt, wird bereits spüren, dass diese Technik die Welt verändern wird. Zweitens kann man als stolze/r Besitzerin oder Besitzer einer VR-Brille anderen Menschen diesen Blick ebenfalls ermöglichen und es gibt wenig lustigere Dinge, als Menschen bei ihren ersten Gehversuchen im Metaverse zu beobachten.

 

Literatur

  • Facebook Germany GmbH (2022): Deutschlands Digitale Pioniere. Wie sie mit datenbasierten Geschäftsmodellen unsere Zukunft mitgestalten.
  • ZEIT vom 13.10.2022 Buchter, Heike: Game Over, Big Tech
  • https://www.zeit.de/2022/39/metaverse-virtual-reality-meta-oculus-quest
  • https://www.immersivelearning.news/2022/09/28/virtuell-eintauchen/
  • https://www.strivr.com/blog/defining-immersive-learning/
  • Sawatzki (2021): Kooperatives Lernen mit digitalen Medien. IN: Rolff & Brägger (2021) Handbuch Lernen mit digitalen Medien. Beltz.
  • https://www.inspiritvr.com/
  • https://youtu.be/1uMQ1qXHNDk
  • https://www.gartner.com/en/articles/what-s-new-in-the-2022-gartner-hype-cycle-for-emerging-technologies
  • https://www.youtube.com/watch?v=pA7IlE0DVQ4
  • https://www.edverse.com/blog/nfts-and-metaverse-the-powerful-web-30-tools-accelerating-virtual-education/
  • https://www.bibb.de/dienst/berufesuche/de/index_berufesuche.php/profile/apprenticeship/gestim23
  • https://www.bibb.de/dienst/dapro/daprodocs/pdf/eb_22338.pdf