Wie entsteht digitaler Stress – und was kann man dagegen tun?
von Marcus Kuhn
Spätestens seit der umfassenden Digitalisierung nahezu aller Lebens- und Arbeitsbereiche ist digitaler Stress zu einem signifikanten Problem geworden. Durch die zunehmende Verbreitung und Nutzung digitaler Technologien beschränkt sich das Phänomen schon lange nicht mehr auf Personen, die in hochdigitalisierten Berufsfeldern tätig sind. Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und viele andere Gruppen berichten zunehmend von den Symptomen und dem Leidensdruck, der mit digitalem Stress einhergeht.
Was ist digitaler Stress?
Der Begriff bezeichnet Stress, der im Kontext von digitalen Technologien und Medien entsteht. Angesichts der Omnipräsenz dieser Technologien ist es kaum verwunderlich, dass immer mehr Menschen unter diesem Phänomen leiden. Blickt man systemisch auf unser Verhalten, wird deutlich, dass Technologien nicht nur Werkzeuge sind; sie formen auch unsere Gewohnheiten und Bedürfnisse. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Kaufen Sie eine neue Bohrmaschine, sehen Sie überall Gelegenheiten, Löcher zu bohren. Bei digitalen Geräten wie Smartphones und Tablets ist dieser Effekt noch ausgeprägter. Sie kommunizieren ständig mit uns, fordern unsere Aufmerksamkeit und versorgen uns regelmäßig mit Dopamin-Kicks.
Was sind Ursachen und Folgen von digitalem Stress?
Dieser ununterbrochene digitale „Lärm“ kann zur sogenannten „digitalen Flächenversieglung“ führen – einem Zustand ständiger Überstimulation und daraus resultierendem Stress. Unser Körper reagiert auf diesen Stress auf die gleiche Weise, wie er auf physische Bedrohungen reagiert: Er geht in den sogenannten „Kampf-oder-Flucht“-Modus. Auf Dauer kann diese ständige Alarmbereitschaft zu einer Reihe von gesundheitlichen Problemen führen, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und andere ernsthafte Erkrankungen.
Es ist wichtig zu betonen, dass digitaler Stress keine einheitliche Erfahrung ist. Er kann sowohl bewusst als auch unbewusst erlebt werden und ist eng mit der individuellen Wahrnehmung und den eigenen Fähigkeiten im Umgang mit Technologie verbunden.
Interessant ist hierbei, dass digitaler Stress je nach Individuum als Bedrohung oder Herausforderung wahrgenommen wird. Nach dem „transaktionalen Stressmodell“ von Lazarus (1984), eine der relevantesten psychologischen Stresstheorien, beurteilt eine Person fortlaufend die aktuelle Situation, der sie gerade ausgesetzt ist. Erst wenn sie dabei ihre eigenen Fähigkeiten zur Meisterung der Herausforderung als gering einschätzt, entsteht Stress. Es sei denn, sie konnte durch vergangene Erfahrungen, ein positives Mindset und eine gute Fehlerkultur die Haltung verinnerlichen, dass die nötigen Fähigkeiten aktiv und ohne große Reibungsverluste angeeignet werden können.
Die größten Stressoren
Die Liste der Stressoren und Stresstheorien lässt sich noch erweitern, aber die Hauptfaktoren, die zu digitalem Stress beitragen, sind bereits gut dokumentiert und untersucht. Vor allem die Konzepte der „digitalen Flächenversiegelung“, der „techno-invasion“ – welche die Omnipräsenz von digitalen Technologien und Medien im Alltag mit ihrer invasiven Wirkung beschreibt (vgl. Weigl, 2021; Weigl & Kaltenegger, 2020) – und der „techno-complexity“ und „techno-uncertainty“ spielen hierbei eine Rolle.
Während „techno-complexity“ das Gefühl von Überforderung oder unzureichender Kompetenz aufgrund der hohen Komplexität von digitalen Technologien beschreibt, weist „techno-uncertainty“ auf die Verunsicherung hin, die durch häufige Wechsel und Änderungen in digitalen Technologien entsteht. Die schnelle Evolution und Veränderung der Technologie, die oft ohne ausreichende Schulung oder Anpassungszeit eingeführt wird, kann zu einem Gefühl der Entfremdung und zu Angst führen.
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Was kann man gegen digitalen Stress tun?
Um mit diesen spezifischen Herausforderungen umzugehen, ist es zunächst wichtig, Bildungsangebote und Schulungen bereitzustellen, die Menschen dabei helfen, sich in der sich ständig verändernden digitalen Landschaft zurechtzufinden.
Es gibt sowohl technische als auch nicht-technische Lösungen zur Bewältigung des digitalen Stresses. Einige Menschen finden Erleichterung durch „Digital Detox“-Perioden, in denen sie bewusst auf technische Geräte und Anwendungen verzichten. Andere nutzen Technologie, um den Stress zu bewältigen, etwa durch Apps, die die Bildschirmzeit begrenzen, oder die Pomodoro-Technik, bei der regelmäßige Pausen eingelegt werden.
Kurze kognitive (Bildschirm-)Pausen haben nachweislich eine hohe Wirkung. Besonders wenn diese für Bewegung oder Meditation genutzt werden und der Geist einer kurzen Reiz-Diät ausgesetzt wird. Das wusste schon Laozi:
„Nichtstun ist besser, als damit beschäftigt zu sein, nichts zu tun.“
Hier existiert viel Spielraum – welche Bereiche sich im Leben ent-digitalisieren oder zumindest reduzieren lassen und ob auf die Arbeit am Bildschirm dann auch eine Pause am Smartphone folgen sollte, muss schlussendlich jede Person selbst entscheiden.
Auf Grund des hohen Grads an Individualität in Bezug auf Stressempfinden und einen gesunden Umgang damit, ist allem voran eine gezielte und regelmäßige Auseinandersetzung mit der eigenen Mediennutzung entscheidend. Auf diese Weise kann deutlich werden, wo die individuellen Stressquellen liegen, und dann mangelt es in der Ratgeberliteratur auch meist nicht an Strategien und Tipps zu der Frage, wie sich diese reduzieren lassen.
Wie heißt es so schön: Work smarter, not harder! Es ist auch wichtig zu erkennen, dass nicht jede neue Technologie oder jedes Update in der Einführungsphase mit Stress einhergehen sein muss. Oftmals können Einarbeitungszeit und Schulungen den Übergang erleichtern und den Stress reduzieren. Nicht zuletzt kann in Bezug auf Technologie auch eine gezielte Investition in Qualität eine entscheidende Hilfe sein. Ein zuverlässiges, gut funktionierendes Gerät kann den Stress erheblich reduzieren.
Benutzerfreundliche Gestaltung der Technik
Während „techno-complexity“ das Gefühl von Überforderung oder unzureichender Kompetenz aufgrund der hohen Komplexität von digitalen Technologien beschreibt, befasst sich „techno-uncertainty“ mit der Unsicherheit und den Herausforderungen, die durch ständige technologische Veränderungen entstehen. Das Konzept der „techno-uncertainty“ bezieht sich auf die Unsicherheit, die Menschen verspüren, wenn sie mit neuen oder sich ändernden Technologien konfrontiert werden.
Die Tatsache, dass die Einführung neuer Programme oder Updates, die mit einer veränderten Benutzeroberfläche einhergehen, messbaren Stress auslösen kann, ist bemerkenswert. Ebenso können bereits lange Ladezeiten von technischen Anwendungen den Herzschlag und Blutdruck signifikant erhöhen. Dies zeigt, dass es wichtig ist, Nutzern ausreichend Zeit zur Einarbeitung in neue Technologien zu geben, denn fehlende Einarbeitungszeit wird oft durch erhöhten digitalen Stress „kompensiert“.
Ein weiterer bedenkenswerter Punkt ist die Qualität der Technologie, die wir verwenden. Und dann noch eine wichtige Lebensweisheit: „Bei Technik gibt es keine Schnäppchen.“ Dies bedeutet, dass billig erworbene Technologie oft mit versteckten Kosten in Form von digitalem Stress, Frustration und schlechter Funktionalität einhergeht. Wenn es um unser geistiges Wohlbefinden und unsere Produktivität geht, ist es oft klüger, in hochwertige Technologie zu investieren.
Und was heißt das jetzt konkret?
Die Ausführungen zum digitalen Stress zeigen, dass es sich um ein facettenreiches und tiefgreifendes Problem handelt, das viele Menschen in unterschiedlichem Maße betrifft. Konkret bedeutet das:
1. Selbstreflexion ist der Schlüssel: Jeder und jede sollte sich regelmäßig fragen, wie er oder sie digitale Medien und Technologien nutzt und wie diese seine Lebensqualität beeinflussen. Dies kann helfen, Muster zu erkennen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen.
2. Bildung und Schulung sind essenziell: Es ist wichtig, dass sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen in Bildung und Schulung investieren, um den Umgang mit digitalen Technologien zu erleichtern und den daraus resultierenden Stress zu minimieren.
3. Qualität vor Quantität: Anstatt ständig nach der neusten Technologie zu suchen, sollte man in qualitativ hochwertige Geräte und Programme investieren, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen und zuverlässig funktionieren.
4. Technologie sollte dienen, nicht dominieren: Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Technologie ein Werkzeug ist, das dazu dient, das Leben zu erleichtern und nicht zu komplizieren. Wenn man das Gefühl hat, von Technologie überwältigt zu werden, ist es vielleicht an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und zu überdenken, wie und warum man sie nutzt.
5. Pausen sind wichtig: Das Einlegen von regelmäßigen Pausen, sei es durch „Digital Detox“ oder kurze Bildschirmpausen, kann helfen, den Geist zu erfrischen und den digitalen Stress zu reduzieren.
6. Unterstützung suchen! Veränderung geschieht von innen – um diese anzustoßen, können jedoch Impulse und Begleitung von außen einen entscheidenden Baustein darstellen. Das ISH bietet für Beschäftigte im Schul- und Bildungsbereich gezielt Fortbildungen zum Thema digitale Stressbewältigung an : ISH Fortbildungen
Beim Erkennen und Überwinden von Denk- und Handlungsmustern, die Stress auslösen, kann zudem die Übernahme der systemischen Haltung einen echten Gamechanger darstellen und einen nachhaltigen Perspektivwechsel bewirken: Quali-C: Weiterbildung Systemisches Coaching
Das Thema digitaler Stress ist hochkomplex und lässt sich in einem Blogartikel nur kurz anreißen. Möchte man aber die ganze Problematik simplifizieren, dann kann man sich selbst die Frage stellen: Wie viele Menschen wünschen sich am Ende ihres Lebens tatsächlich, mehr Zeit vor dem Bildschirm verbracht zu haben?
In diesem Sinne: Gönnen Sie sich nun einmal ganz bewusst Ihre persönliche bildschirmfreie Pause!